11.05.2024 22:45 Uhr

Tor-Eskalation: Der 1. FC Köln wedelt sein Wunder an

Jubel in Köln: Der Effzeh dreht gegen Union Berlin einen 0:2-Rückstand
Jubel in Köln: Der Effzeh dreht gegen Union Berlin einen 0:2-Rückstand

In Köln sieht im Abstiegs-Endspiel gegen den 1. FC Union Berlin alles, wirklich alles, lange nach dem fixen Abstieg des 1. FC Köln aus. Dann setzt der FC zum wilden Punch in der Schlussphase an und reißt Union Berlin tief rein in den Abstiegskampf. Nach dem 3:2 eskaliert das Stadion und die Hoffnung auf ein Wunder kehrt zurück.

Die Kölner Anhänger, die in der 85. Minute ohne große Worte und Gesten ihre Plätze verlassen und Richtung Ausgang laufen, werden diesen Nachmittag in Müngersdorf sicher auch nicht so schnell vergessen. Sie haben das Beste verpasst. Es kam eben ganz zum Schluss und zündete die Arena so richtig an.

Und irgendwie wirkte es fast so, als habe der tief in Abstiegssorgen steckende 1. FC Köln sich etwas Nachspielzeit- und Joker-Glück vom Nachbarn ein paar Kilometer weiter nördlich in Leverkusen geborgt.

Zwar hatte der FC vor einigen Wochen gegen Bochum schon mal ein Spiel in den letzten Minuten gedreht, anschließend aber vier Partien in Serie nicht gewonnen. Und vermutlich hätten nur sehr wenige FC-Fans vor der 85. Minute noch auf ein Comeback in der Schlussphase dieser Partie gesetzt.

FC startet im Endspiel erst spät durch

Die Ausgangslage vor dem Anpfiff war sehr klar umrissen: Nur mit einem Sieg bliebe der 1. FC Köln noch im Rennen um den Klassenerhalt. Do or die.

Das Problem aus Kölner Sicht: Mit dem Tore schießen klappte es zuletzt nicht. Die Mannschaft wirkte stets bemüht, offensiv aber viel zu harmlos. Nur 24 Treffer standen vor Anpfiff auf der Habenseite. So wundert es auch nicht, dass vor dem Spiel Lizenzspielleiter Thomas Kessler den Ketchup-Effekt beschworen hatte. Wenn der Ball nie über die Linie will, muss es doch irgendwann mal klappen. Dann aber richtig. Und tatsächlich, in den letzten Minuten der Partie krachte gewaltig was aus der verstopften FC-Flasche. Zwei Tore und eine Menge Adrenalin und Glückshormone. Insgesamt drei Treffer hatte der FC nur in den beiden Derby gegen Borussia Mönchengladbach erzielt.

Dabei hatte an diesem 33. Spieltag alles überhaupt nicht gut angefangen für die Gastgeber. Rund ums Stadion bei sonnigen 25 Grad herrschte zwar fast schon absurd gute Laune, doch Union schenkte dem FC durch zwei Standards (Kopfballtor nach Ecke und Elfmeter nach Handspiel) noch vor der 20. Minute zwei eiskalte Duschen ein. Es waren Wirkungstreffer fürs Team und die Zuschauer. Mehrere Minuten war der Stecker in der Kölner Arena gezogen. Die Anfangseuphorie und gute Laune schnell verflogen.

Joker stechen - FC jubelt in der Nachspielzeit

Die FC-Spieler betonten nach dem Spiel, stets an sich und ein Comeback geglaubt zu haben, auch wenn man nach den Tiefschlägen "im ersten Moment die Köpfe hängen lässt", wie Kapitän Florian Kainz erzählte oder sich sogar "etwas gebrochen" fühlt, wie es Keeper Marvin Schwäbe in der Mixed Zone ausdrückte. "Wir sind eine Mannschaft, die einen guten Charakter hat und nie aufsteckt", brachte Kainz den Willen des Teams auf den Punkt.

Fürs Comeback benötigte es aber erst etwas Hilfe. Dank eines weiteren Elfmeters (Rani Khedira brachte Timo Hübers zu Fall), den Kainz sicher verwandelte, kamen die Gastgeber auch noch vor dem Halbzeitpfiff zurück. Mit viel Applaus schickten die FC-Anhänger ihre Elf in die Katakomben, getreu dem Motto: "FC jeff Jas. He weed nit resigniert (FC gib Gas, hier wird nicht resigniert)."

Und Timo Schultz probierte, dieses Gaspedal irgendwie irgendwo zu finden. Der Trainer stellte auf Dreierkette um, ging mehr ins Risiko. All in – was bleibt auch sonst in einem echten Endspiel? Zudem brachte er die Offensivkräfte Steffen Tigges, Mark Uth und Damion Downs. Schultz selbst wedelte wie wild mit den Armen, peitschte sein Team nach vorne wie auch das Publikum. Je länger das Spiel lief, desto öfter probierte es der FC mit langen Bällen auf Tigges und Abwehrchef Jeff Chabot, den es früh nicht mehr hinten hielt. Doch es sprang kaum etwas Zwingendes heraus. Die Großchance von Faride Adilou (50.) war der vorerst letzte große Funken, den der FC entfachte.

Der Unmut auf den Rängen wurde größer, die Sorgenfalten auch und plötzlich wurde es auch merklich leiser im Stadion. Die Anspannung war zum Greifen. Der besiegelte Abstieg kroch spürbar heran, Minute um Minute, legte sich wie eine Würgeschlange um den Hals. Der FC stemmte sich trotzdem weiter gegen die drohende Niederlage und auch ein Remis. Dann wurde es richtig wild. Alle drei Joker hatten ihren Anteil am wichtigen Heimsieg. In der 87. Minute kämpfte erst Uth im Fallen eine Hübers-Flanke weiter, Tigges köpfte ein, belebte das Stadion wieder.

"Auf einmal sind alle wieder da, jeder Spieler, ganze Stadion, drücken wieder rein. Es geht so schnell im Fußball", sagte Kainz zur Stimmung nach dem Ausgleich.

Auf Stille folgt Eskalation

Köln warf alles nach vorne, packte die allerletzten Patronen aus. In der dritten Minute der Nachspielzeit folgte die Erlösung. Linton Maina drang auf der linken Seite in den Sechzehner ein und fand am langen Pfosten Downs, der wieder per Kopf einnickte und damit die Tür zur FC-Eskalation eintrat. Völlige Ekstase im Stadion. Kölner Anhänger in der Südkurve hüpften überwältigt über den Zaun, konnten ihr Glück nicht fassen. Pyros flammten auf, genau wie die erneute Hoffnung.

Selbst erfahrene Profis wie Dominique Heintz rangen hinterher um Worte: "Ich habe so Gänsehaut und Tränen in den Augen beim 3:2", sagte er nach Abpfiff. "Eigentlich waren wir weg – tot. Auf einmal lebst du wieder. Was für ein verrücktes Spiel, fast wie gegen Bochum. Ich dachte, das Stadion fliegt auseinander." Tatsächlich dürfte der Dezibel-Rekord im Rheinland an diesem Nachmittag gewackelt haben. "Das ist nicht in vielen Stadien möglich. Wir können froh sein, dass das Dach noch drauf ist", sagte Trainer Schultz.

Als Schiedsrichter Deniz Aytekin um 17.27 Uhr abpfiff, schrien die Fans ihre Emotionen weiter raus, die meisten FC-Spieler hatten dafür keine Kraft mehr und sanken zu Boden. Erschöpft, teilweise von Krämpfen gebeutelt. Ausgepumpt und k.o. von diesem Wahnsinns-Endspurt, der sich in dieser Form nicht wirklich abgezeichnet hatte. Köln wirkte bis zur Schlussphase eigentlich als sicherer Absteiger. Wie genau sie das Spiel nochmal an sich gerissen habe, wissen sie wahrscheinlich selbst nicht. "Irgendwie haben wir das Spiel gedreht und uns ein weiteres Endspiel erarbeitet", so Kainz.
Das Team versammelte sich am Mittelkreis, schwor sich sofort ein. Dann ging es auf die Ehrenrunde durchs Stadion, die dann vor der Südkurve endete. Nach einer kurzen Ansprache der Fans wurde das Team gefeiert. "Weltmeister vum Rhing" stimmten die Leute an, feierte ihren Klub und die Hoffnung auf den Klassenerhalt, den Minuten zuvor keiner mehr für möglich gehalten hatte.

Dabei ist die Ausgangslage vor dem Saisonfinale weiter maximal schlecht. Sie ist nur etwas weniger aussichtslos geworden. Der FSV Mainz 05 zerlegte am Abend Borussia Dortmund und hat sich aus der Reichweite der Kölner verabschiedet.

Durch den überraschenden 3:0-Sieg der Mainzer gegen den BVB kann der FC bestenfalls noch den Relegationsplatz erreichen. Und das auch nur bei einem eigenen Sieg in Heidenheim und einer gleichzeitigen Union-Niederlage am letzten Spieltag. Auch das Torverhältnis wird eine Rolle spielen. Köln muss vier Treffer gutmachen. Es wird eine Herkulesaufgabe, die auch noch Schützenhilfe und vielleicht auch Glück benötigt.

Einer der kuriosesten Klassenerhalte?

Zumal sich die Personalsituation verschärfte. Da in Heidenheim Benno Schmitz und Denis Huseinbasic gelbgesperrt fehlen werden und sich Luca Waldschmidt und Max Finkgräfe verletzten, sprach Schultz von einer "verlustreichen Schlacht".Der psychologische Vorteil im Fernduell liegt aber bei den Kölnern. Schultz berichtete, dass noch dem bitteren 0:0 gegen Freiburg in der Vorwoche große Ernüchterung geherrscht habe, sich aber die Stimmung im Team und Training sehr schnell gewandelt hätten. "Irgendwas lag in der Luft", so Schultz. "Vielleicht kann es sogar zu einem der kuriosesten Klassenerhalte werden, den es seit langem gegeben hat." Dass sie dazu fähig sind, haben sie nun beweisen.

Noch brennen die Lichter beim 1. FC Köln. "Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren. Wir haben noch nichts erreicht, das muss man auch sagen", warnte Heintz vor zu viel Euphorie. "Es war ein wichtiger Sieg, dass du am letzten Spieltag nochmal alles geben kannst." Der Fußballgott hat noch ein Strohhalm für uns gehabt, wir haben uns fest daran geklammert. Wir haben ein richtiges Zeichen gesetzt heute. Auch ein Zeichen an alle FC-Fans."

"Warum tun wir uns das eigentlich jedes Mal an?", fragte ein Kölner Fan eine gute Dreiviertelstunde vor Anpfiff beim Betreten der Tribüne. Die Antwort erhielt er spätestens in der Nachspielzeit.

Emmanuel Schneider, Köln